Paris hätt en Eiffelturm…
Roger Strub
Stiftungsrat der Stiftung Gasometer und Stv. Kantonaler Denkmalpfleger des Kantons Zürich
Schlierens Landmark
Als «d Schlieremer Chind» in den 1970er Jahren das Gaswerk ihrer Heimat im «Gaswärklied» verewigten, war es weniger dessen industrielle oder geschichtliche Bedeutung, welche der schweizweit bekannte Kinderchor besang, als vielmehr die eindrückliche Erscheinung des Industrieareals, das Schlieren ein unverwechselbares Gesicht verleiht. Mit gesundem Stolz und herzhafter Selbstironie stellten sie es dem Eiffelturm in Paris und der Königin in London gegenüber, sangen vom Landmark an der Bahnstrecke Zürich – Basel und Zürich – Zug – Baar und zögerten nicht, die bis heute eindrückliche Baumallee auf eine «Schlieremer Champs-Élysées» zu reimen – «den Duft der grossen weiten Welt han ich in Schliere au…!»
Das Kinderlied entstand lange bevor im Zusammenhang mit Baudenkmälern der Begriff der identitätsstiftenden Wirkung inflationäre Verwendung fand und ist dennoch bester Beleg dafür, wie stark besondere Gebäude und öffentliche Räume die Wahrnehmung der Bewohnerinnen und Bewohner ihres Wohn- oder Geburtsortes prägen. Auch die Referenz an die «grosse weite Welt» ist keineswegs verfehlt – die im 19. Jahrhundert stark wachsende Infrastrukturversorgung hat das Bild aller Grossstädte und ihrer Vororte mit ihren Anlagen wesentlich geprägt.
Zeugnis der Stadtwerdung von Zürich und der Industrie
Als Zürich nach der Eingemeindung von elf Vororten im Jahr 1893 «Grossstadt» geworden war, liess sie die ersten Regiebetriebe (Elektrizitätswerk, elektrische Strassenbahn, Schlachthof) errichten und informierte sich auch bei der Planung eines Gaswerks international. Auf Basis des Studiums der Anlagen in Berlin (Charlottenburg), Altona, Kopenhagen und weiteren europäischen Städten entwickelte Zürich unter der Leitung von Stadtbaumeister Arnold Geiser 1896 das Projekt, das in der noch unverbauten Ebene des Limmattals errichtet wurde. Eröffnet wurde die damals gesamtschweizerisch grösste Energieanlage mit einer Leistung von 25 000 m3 Gas pro Tag bereits zwei Jahre später. Die Gründungsbauten wurden der Zeit entsprechend in repräsentativer Werkarchitektur erstellt.
Zu den ersten technischen Bauwerken im Schlierener Gaswerk zählt der heute noch bestehende Gasometer I aus dem Jahr 1898, ein mächtiger Teleskop-Gasbehälter, eingefasst vom Führungsgerüst in Stahlkonstruktion. Der Gasometer speicherte Steinkohlegas, welches durch die Umwandlung von Kohle in Koks gewonnen wurde und zur Beleuchtung der Stadt Zürich (Leuchtgas, Stadtgas), nach der Elektrifizierung vorwiegend zum Kochen und Heizen verbraucht wurde. Bis 1932 entstanden in Schlieren schliesslich vier Gasbehälter dieser Bauart, die teils auch erheblich grösser waren als der Gasometer I.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte die Schweiz zu den ersten europäischen Ländern mit Gas-Fernversorgung der Städte; in der Blütezeit standen in den Vororten der Schweizer Städte insgesamt mehr als 100 Gaswerke unterschiedlicher Grösse und waren damit im öffentlichen Bewusstsein präsent. Nach einem starken Konzentrationsprozess zu Grossanlagen in den folgenden Jahrzehnten kam das Ende der lokalen Gasproduktion abrupt: Mit der Verfügbarkeit von Erdgas und der Einbindung der Schweiz in das internationale Erdgas-Netz in den 1960er Jahren verschwanden die Gaswerke und mit ihnen die auffälligen Gasbehälter sehr rasch. Das Gaswerk Schlieren schloss 1974.
Von der Gasproduktion zum Denkmal
Glücklicherweise war in Zürich und Schlieren zu diesem Zeitpunkt das Bewusstsein bereits da, dass das Zürcher Gaswerk im Ortsbild des mittlerweile stark gewachsenen Schlierens von Relevanz ist und dass es ein bedeutendes Zeugnis des Industriezeitalters darstellt. Schon 1979 erstellte die Kantonale Denkmalpflegekommission auf der Basis der Einschätzungen eines Pioniers der Industriearchäologie, des 2022 verstorbenen Winterthurers Dr. Hans-Peter Bärtschi, ein Gutachten über die Schutzwürdigkeit der Anlage. Die den Regierungsrat beratende Kommission stellte mitunter den Antrag, dass alle vier
Gasometer unter Schutz zu stellen und integral zu erhalten seien. Die Verhandlungen über die Erhaltung waren allerdings äusserst zäh und zogen sich über Jahrzehnte hin. Weitere Gutachten folgten: Im jüngsten Gutachten der Kommission von 1996 schliesslich war der Antrag bezüglich der Gasometer – «das eigentliche Wahrzeichen des Gaswerks», wie die Gutachtenden festhielten – bereits auf zwei der Gaskessel reduziert, «in der Hoffnung, dass diese (die beiden kleinen und ältesten Gaskessel) am ehesten erhalten werden können». Auf Basis der Aufnahme der Anlage in das Inventar der Denkmalschutzobjekte von überkommunaler Bedeutung wurden die beiden Gasometer vorsorglich unter Schutz gestellt. Dagegen erhob die damalige Eigentümerschaft Rekurs und erreichte in den Verhandlungen den Verzicht auf die Unterschutzstellung des zweiten Gasbehälters. Den schliesslich einzig unter Denkmalschutz gestellten Gasometer I mit zugehörigem Heizhäuschen und Gaszählergebäude überliess sie 2001 mit dem entsprechenden Grundstück unentgeltlich dem Kanton Zürich mit der Auflage, den Gasometer als technisches Denkmal wieder instand zu stellen. Der so zum Eigentümer gewordene Kanton nahm den Gasometer ins Immobilienportfolio seines Natur- und Heimatschutzfonds auf und vertraute das Denkmal schliesslich 2001 im Baurecht der heutigen Stiftung Gasometer Schlieren an.
Technisches Kulturgut
Als letzter von ursprünglich vier Gasbehältern ist der Gasometer I damit das letzte dieser emblematischen technischen Bauwerke im Gaswerk-Areal von Schlieren. Die ursprüngliche Nutzung des Areals, dessen Schlüsselbauten glücklicherweise noch heute bestehen, erschliesst sich anhand des Gasometers sofort und eindeutig. Der Kessel ist in bauzeitlicher Substanz einschliesslich Messvorrichtungen, Behälterheizung und deren Armaturen erhalten. Der Gasometer I ist als 1898 erstellter Behälter des ehemaligen Zürcher Gaswerks ein herausragender Zeuge der Technik- und Sozialgeschichte des Kantons Zürich. Er bezeugt den Stand der Stahlbautechnik seiner Bauzeit, wie man sie sonst nur noch beispielsweise bei Eisenbahnbrücken und Hallenbauten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vorfindet. Der imposante Stahlbehälter erläutert bis heute gut verständlich, wie die Versorgung einer werdenden Grossstadt mit einem lagerfähigen und gut transportier- und verteilbaren Energieträger funktioniert hat. Als Teil einer städtischen Infrastrukturanlage und der Energieversorgung von Zürich ist er für die Stadtgeschichte von grosser Bedeutung; darüber hinaus kommt dem Gasometer die Qualität eines unverwechselbaren und einzigartigen Landmarks zu, das wohl weit über den Kanton hinaus Bekanntheit geniesst und nicht nur für die Stadt Schlieren identitätsstiftend ist.
Der schweizweit letzte noch existierende Teleskop-Gasometer
Mittlerweile ist der «Eiffelturm von Schlieren» der einzige erhaltene Teleskop-Gasbehälter der Schweiz – er ist in diesem Sinn zu nationaler Bedeutung gelangt. Im deutschsprachigen Europa sind neben Schlieren einzig in den Gaswerken Schöneberg und Mariendorf in Berlin noch historische Exemplare der einst weitverbreiteten Teleskop-Gasbehälter erhalten geblieben.
Wie von Abegg und Baldinger dargelegt, ist die Bestrebung der ersten Sanierung, den Teleskop-Mechanismus beweglich und vorführbar zu halten, gescheitert. Nach längerer Auseinandersetzung mit verschiedenen Szenarien, die auch die Optionen des (Teil-)Rückbaus oder des kontrollierten Verfallenlassens nicht scheute, sowie nach genauem Abwägen von finanzieller Verhältnismässigkeit und baukultureller Verantwortbarkeit wurde klar, dass die maximale Verlangsamung der fortschreitenden Korrosion der gänzlich in Stahl gebauten Anlage im Fokus der Erhaltungsstrategie des Gasometers stehen musste. Der Pragmatismus der schliesslich gewählten Lösung – ein Schutzdach, wie man es als Erhaltungsmassnahme für archäologische Fundsituationen kennt – war so überraschend wie überzeugend. Einzig die Vorstellung, dass die Erscheinung des Gasometers damit eine erhebliche und auch aus der Ferne wahrnehmbare Veränderung erfahren würde, sorgte im Stiftungsrat noch einen kurzen Moment für ein Zögern. In engem Dialog mit Ingenieur Jürg Conzett entwickelte sich die Idee eines Schutzdaches von der reinen technischen Notwendigkeit schliesslich zu einer eigenständig-innovativen, für sich selber sprechenden ingenieur-architektonischen Zufügung mit eigener Ästhetik, welche die anfangs berechtigten Zweifel zu zerstreuen vermochte. Die Idee, das Schutzdach mit einer Photovoltaik-Folie auszubilden und damit den Kontext der Energieversorgung aufzugreifen, in welchem der Gasometer historisch steht, musste mangels genügend weit entwickelter Produkte hingegen vorerst Vision bleiben. Das Projekt und ein entsprechender Antrag auf finanzielle Unterstützung fand die Zustimmung des Zürcher Regierungsrates als Sachwalter der Mittel des Natur- und Heimatschutzfonds und des Bundesamtes für Kultur, welches der subsidiären Verwendung von finanziellen Mitteln aus der Programmvereinbarung von Bund und Kanton für den Erhalt des letzten Teleskop-Gasometers der Schweiz vorbehaltslos zustimmte – ganz im Sinne einer Zeile des «Gaswärk»-Liedes der «Schlieremer Chind»: «So es Gaswärk isch doch Gold wärt, schynt’s vo usse no so grau!»